Bayern ist nervs...! - Zum Zehnjhrigen: 11FREUNDE

Heiseres Rufen, ein Pfiff schneidet durch die Luft, Bierglas splittert. Dann wieder Ruhe. Der Mann am Urinal spht ber die Schulter, er legt die Stirn in Falten, lauscht. Hoffentlich fllt jetzt kein Treffer. Das alte Fandilemma. Wann auf Klo gehen, ohne etwas zu verpassen? Die Frage ist fast so alt wie das Spiel selbst.

Hei­seres Rufen, ein Pfiff schneidet durch die Luft, Bier­glas split­tert. Dann wieder Ruhe. Der Mann am Urinal späht über die Schulter, er legt die Stirn in Falten, lauscht. Hof­fent­lich fällt jetzt kein Treffer.“ Das alte Fan­di­lemma. Wann auf Klo gehen, ohne etwas zu ver­passen? Die Frage ist fast so alt wie das Spiel selbst.

»> Oh, wie war das schön: Die Fotos zum Spiel in der Bil­der­ga­lerie!

Allein, heute stellt sie sich nicht. Es wird kein Treffer fallen, jeden­falls nicht jetzt, nicht mehr vor der Halb­zeit. Der FC St. Pauli führt schon mit zwei Toren gegen Bayern Mün­chen. Natür­lich weiß das der kleine Mitt­vier­ziger, mitt­ler­weile zum Wasch­be­cken gewech­selt, auch. Er grinst in den Spiegel. An diesem Abend im Knust“ gehört Ironie zum guten Ton.

Noch 25 Minuten bis Play“

Das Pro­jekt Fan­räume e.V. hat in den kleinen Club an der Feld­straße geladen, um auf den Tag genau das zehn­jäh­rige Jubi­läum der Welt­po­kal­sie­ger­be­sieger zu begehen. Die gemein­nüt­zige Spenden-Initia­tive enga­giert sich für selbst­ver­wal­tete Fan-Räum­lich­keiten im neuen Mill­erntor. Eigent­lich sollte das Event auch am Mill­erntor steigen, aber die zwei­stel­ligen Minus­grade wollte man den Anhän­gern dann doch nicht zumuten. Im Knust“, Luft­linie 150 Meter, staut sich die Wärme. 19:35 Uhr, fünf­und­zwanzig Minuten bis zum Spiel. 25 Minuten bis Play“.

Sta­di­on­spre­cher Rainer Wulff liest die Ergeb­nisse des 20. Spiel­tags aus der Saison 2001/02 vor. Hansa Ros­tock gegen FC St. Pauli 1:0, FC Bayern Mün­chen gegen Bayer Lever­kusen 2:0. Für die Mann­schaft von Ottmar Hitz­feld damals das Fanal zur Auf­hol­jagd auf die Spitze, das ent­eilte Dort­mund sollte ein­ge­holt werden. Die Vor­zei­chen stehen also nicht eben gut“, unkt Wulff auf der kleinen Bühne. Der Mann mit dem Timbre kettet sich an seine Rolle, ver­zieht keine Miene. Die Menge im Knust“ johlt. Hier soll ein zweites Erleben kon­stru­iert werden, das dem ersten zur Ehre gereicht. Auch die Preise sind den eins­tigen nach­emp­funden, Bier kostet 1,80 Euro. Ironie und Nost­algie. Wer nicht sen­ti­mental werden will, muss sich zynisch geben. So ist das nun mal.

Anstoß. Hellmut Krug pfeift das Spiel an

20:01 Uhr, die Technik spielt die DVD ab. Hellmut Krug pfeift, die Hosen bis an die Brust gezogen, an. Als Thorsten Fink über die Lein­wand trabt, buhen die Sitz­reihen laut. Fink, mitt­ler­weile Trainer beim Ham­burger SV, hat der Mopo“ am selben Tag gesagt, er ver­stehe die Auf­re­gung auf dem Kiez nicht: Ich weiß nicht, ob das ein Rie­sen­grund zu feiern ist. Eigent­lich war das nur ein Bun­des­liga-Duell, das kann man ja mal ver­lieren.“

Genauso spielen die Bayern, oder eigent­lich spielen sie eben nicht. St. Pauli rollt Angriff um Angriff auf das Tor von Oliver Kahn. Von Trainer Dietmar Demuth in einem aber­wit­zigen 2−6−2, Holger Sta­nis­lawski und der US-Ame­ri­kaner Cory Gibbs ver­tei­digen mann­de­ckend gegen Pizarro und Jan­cker, auf den Rasen geschickt, bleibt den Braun-Weißen gar keine andere Mög­lich­keit. In der 22. Minute jagt Thomas Meggle das Leder an die Quer­latte. Da geht was“, kra­keelt ein Punker.

600 St. Pau­lianer singen: Bayern ist nervös, Bayern ist nervös …“

Acht Minuten später steckt Zlatan Bajra­movic im Mit­tel­feld auf Marcel Rath durch. Der Mann mit der Glatze reitet über den linken Flügel bis an den Straf­raum, sieht Meggle, der Robert Kovac ins Leere rut­schen lässt, ehe er ins lange Eck schiebt. In 2002 explo­diert das Mill­erntor.

In 2012 müht sich das Knust“ um Ekstase. Arme werden hoch­ge­rissen, Astra-Fla­schen pros­tend gegen­ein­ander geschmet­tert. An das wirre Gefühls­chaos, als Tabel­len­letzter gegen Stefan Effen­berg und Co. zu führen, reicht das indes nicht heran. Zu oft hat man dieses Tor schon gesehen, den Pass nach innen, das ver­zwei­felte Stre­cken von Kahn, den Paar­lauf von Meggle und Patsch­inski beim Jubel. Meggle der sich als Gast für das Public Vie­wing ange­kün­digt hatte, musste kurz­fristig absagen. Es ist eben nur das Revival.

Immerhin, Nico Patsch­inski weilt im Knust“. Um 20:34 Uhr sieht der Stürmer, wie sein 25-jäh­riges Ich eine Ecke zum 2:0 ins Netz drischt. Mann, bin ich gut“, feixt Patsch­inski. Der Humor stimmt.

2:0. Die Tri­bünen der Fuß­ball­fa­vela wackeln bedenk­lich.

Beim diesem zweiten Tor erup­tiert das Mill­erntor end­gültig. Fremde Men­schen liegen sich in den Armen, die Tri­bünen der Fuß­ball­fa­vela wackeln bedenk­lich unter dem Dezi­bel­turm der 20.735. In zwei Kilo­meter Ent­fer­nung wirft Klassikradio“-Moderatorin Ste­fanie Drohner, beken­nende Bayern-Sym­pa­thi­santin, flu­chend ihr Buch weg. Selbst durch das geschlos­sene Wohn­zim­mer­fenster hörte ich ziem­lich laut zum zweiten Mal diesen Tor­jubel und wusste, was los ist.“

Schlechter ist da nur die Laune von Oliver Kahn. Mit viel Glück der­wischt der wütende Natio­nal­keeper einen Schuss von Morten Berre um den Pfosten und hadert danach, die Hände beschwö­rend in den Ham­burger Nacht­himmel gespreizt, mit seiner Defen­sive. An der Bar lacht ein rüs­tiger Rentner: Du wirst eine gute WM spielen, Olli – also lass doch noch einen durch!“ Ja, ein Tor noch vor der Pause wäre schon sehr wichtig, pflichtet ihm der Sitz­nachbar bei. Als Polster. Für die Sicher­heit.

Hitz­feld bringt Sergio. Und Scholl. Und Elber.

Natür­lich fällt kein Tor mehr vor der Pause, weil kein Tor mehr vor der Pause fiel. Mit 14:4 Tor­schüssen für die Haus­herren geht es in die Kabinen. Hitz­feld bringt nach dem Sei­ten­wechsel Sergio, Scholl und Gio­vane Elber für Sforza, Jan­cker und Fink. Die Wende bringt er nicht.

Der Rekord­meister drückt zwar aufs Tempo, wirkt dabei aber unin­spi­riert, leer. Erst drei Minuten vor Schluss gelingt Willy Sagnol der Anschluss­treffer. Am Mill­erntor macht sich das große Zit­tern breit, im Knust“ ent­spannte Scha­den­freude. Wird doch nichts“, kom­men­tieren die Fans gut­ge­launt die Brech­stan­gen­flanken des Cham­pions-League-Sie­gers. Pfeif‘ end­lich ab, Helmut.“ Helmut pfeift end­lich ab.

Noch im Mann­schaftsbus pfeift Uli Hoeneß seine Leute zusammen

Der Sieg des Tabel­len­letzten gegen den Deut­schen Meister ist per­fekt. Uli Hoeneß faltet seine Spieler noch im Mann­schaftsbus zusammen: Wir haben einen Dreck gespielt. Alle dachten, das geht hier Hacke, Spitze, eins, zwei, drei. Wäh­rend ich eine schlaf­lose Nacht habe, kloppt ihr dreißig Minuten nach dem Abpfiff schon wieder Karten und esst Scampis.“

Die Fans des FC St. Pauli kriegen davon damals frei­lich schon nichts mehr mit. Die Kurven wanken direkt auf den Kiez, nicht nur sie­ges­trunken. Es ist Mitt­woch. Es ist egal. Am Tresen des Jolly Roger“, der Fan­kneipe, wird in jener Nacht eine Idee von einiger Trag­weite geboren. Heiko Schl­es­sel­mann vom Fan­laden St. Pauli liegt sich mit Mer­chan­di­sing-Pro­dukt­chef Hen­drik Lüttmer in den Armen, der Brandy fließt, Glas um Glas. Lüttmer weiß nicht mehr, wer mit Welt­po­kal­sieger anfing und wer daraus den geflü­gelten Ter­minus vom Welt­po­kal­sie­ger­be­sieger schach­telte. Aber er erin­nert sich am nächsten Tag noch daran, das Wort hatte sich ins Gedächtnis gebrannt. Zehn Jahre später sind über 100.000 T‑Shirts mit dem Slogan ver­kauft.

Als das Knust“ am Mon­tag­abend seine Besu­cher aus­spuckt, gegen 23 Uhr, eilen die meisten direkt in die U‑Bahn-Sta­tion, oder zum par­kenden Auto. Der FC St. Pauli hat eben mit 2:1 gegen Bayern Mün­chen gewonnen. Schon wieder. Immer noch. Auf den Kiez zieht keiner mehr.

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